Vom Zeichen-Perfektionismus zum stressfreien Scribblen
Im Laufe meines Zeichen-Lebens habe ich eine Menge Zeit damit verbracht, mich zeichnerisch zu stressen und hohe Ansprüche an mich zu stellen. Stimmt die Perspektive? Die Proportion? Hätte ich nicht dies und das noch besser machen können? Das ist das Gegenteil von ‚locker zeichnen‘.
Zeichnen bzw. Perspektive habe ich in meinem Studium der Innenarchitektur gelernt. Wir mussten damals am Reißbrett Perspektiven unserer Entwürfe konstruieren, das heißt die perspektivischen Zeichnungen nach genauen Konstruktionsregeln aus den Maßen der Grundrisse und Querschnitte entwickeln. Auch beim sogenannten Freihandzeichnen gab es Regeln und Vorgaben, so realistisch bzw. proportional richtig (wie es für uns halt möglich war) zu zeichnen. Wir haben unser Bestes gegeben, aber manchmal hat diese Enge nicht wirklich Spaß gemacht.
Danach ging es mir wie wahrscheinlich vielen Kreativen. Eine lange Zeit habe ich wenig gezeichnet, höchstens im Urlaub, oder wenn sonst mal freie Zeit war. Auf jeden Fall nicht regelmäßig. Die fehlende Übung kombiniert mit meinem Anspruch an Perfektion hat mich dann gestresst, wenn ich mal eine Zeichnung angefangen habe. Eigentlich gab es ja niemanden, der diese Ansprüche an mich hatte (außer mir selbst), aber ich fühlte mich gegängelt und sehr beengt; eine Kombination die zu Verkrampfung führt.
Skizzenbuch Lanzarote 1999: dort habe ich viel gezeichnet, und dadurch konnte ich locker sein
Ups and downs und der Weg heraus
Mitte/Ende der 2000er Jahre habe ich dann angefangen, wieder regelmäßig zu zeichnen, vor allem in Skizzenbüchern (zuhause und unterwegs). Das Skizzenbuch hat den Druck schon etwas rausgenommen; da kann eine Seite auch mal total daneben gehen – dann blättert man halt einfach weiter (rausreißen gilt nicht ;^)). Der Prozess ist sowieso wichtiger als das Resultat. Zeichnerisch konnte ich mich dadurch ganz gut befreien.
Dann traf ich die Urban Sketchers. Die Treffen brachten unglaublich viel Freude. Menschen, die genau das selbe machen wie ich! In der Gegend rumsitzen und zeichnen… Wunderbar! Aber es entstand auch Druck, denn (das kennst Du vielleicht) man zeigt seine Zeichnungen gegenseitig rum und vergleicht … Ich denke, von dem Druck kann sich erst mal keine/r wirklich freimachen. Und nach einiger Zeit hatte ich mich leider zeichnerisch wieder festgefahren. Ich wurde immer vorsichtiger und hatte sogar das Gefühl, mich zurück zu entwickeln.
Ein Workshop mit Liz Steel auf dem Urban Sketchers Symposium in Chicago hat mich aus dieser Starre geholt. Inhalt des Workshops war unter anderem das Aufteilen der Zeichnung in mehrere Phasen. Wir betrachteten die Elemente der Szenerie gesondert. Ich glaube noch nicht mal, dass es Zweck ihres Workshops war, sich zu entkrampfen. Aber bei mir führte es dazu. Glücklicherweise. Ich konnte die Zaghaftigkeit, die sich in meine Skizzen eingeschlichen hatte, überwinden. Ich konnte loslassen. Seitdem kann ich wieder locker zeichnen.
Riverwalk Chicago, Urban Sketchers Treffen 2017
Mein Weg zu einer lockeren Zeichnung
Ich starte oft mit dem Betrachten einer Szene rein in Aquarell oder Gouache. Dabei lege ich den Fokus erst einmal nur auf Flächen und auf Tonwerte (helle und dunkle Bereiche in den Flächen). Das habe ich aus dem Workshop damals mitgenommen (Felix Scheinbergers Buch ‚Drainting‘ geht auch darauf ein).
Mein erster Schritt ist eine Art Suchen, Ertasten der Formen und Farben mit dem großen Pinsel. Details oder Hervorhebungen entstehen erst in einem zweiten Schritt, meist unter Verwendung von Farbstiften, Acrylmarkern oder Tusche. Fineliner nutze ich inzwischen eher selten. Auch meine unzähligen Lamy Safari Füller trocknen momentan alle ein. Mir gefällt das Zeichnen mit dem Fude Pen (Füller mit abgeknickter Spitze) inzwischen besser. Die Linien sind variabler, und damit auch lockerer.
Mein Weg ist dieser: erst mal schauen. Die Szene verstehen. Nach rechts und links, oben und unten schauen, versuchen die Grundstruktur der Objekte zu erkennen, bevor ich loslege. Ich muss nicht alles zeigen, sondern nur das, was mich wirklich in diesem Moment interessiert. Vieles deute ich nur an oder vereinfache Elemente.
Urban Sketch Aquarell und Farbstift auf Papier / © Anne Nilges
Meine Skizzen sind insgesamt weniger detailliert geworden, was aber nicht heißt, dass sie ungenau sind. Der Schwerpunkt liegt einfach mehr auf meiner Interpretation und auf dem, was mich interessiert. Nicht auf der detailgetreuen Abbildung. Das fühlt sich für mich frei an.
Dazu gehört auch, das Ganze nicht zu eng zu sehen. Nichts muss perfekt sein.
Zeichnen lernen heißt sehen lernen
Das Beobachten der gesamten Szene ist aus meiner Sicht eine absolute Grundlage. Wenn ich das Objekt oder die Szene verstanden habe, kann ich eine funktionierende Zeichnung erstellen, auch wenn ich nicht alles zeige. Lockeres Zeichnen funktioniert dann, wenn ich das Objekt im Blick behalte (und nicht nur meine Zeichnung fixiere). Wenn die Übertragung vom Auge zur Hand (und damit aufs Blatt) nicht funktioniert, kann keine stimmige Zeichnung entstehen. Diese Auge-Hand-Koordination muss man üben, damit sie funktioniert. Hierbei entsteht am Anfang „irgendetwas“ und mit steigender Übung „etwas“.
Mein Merksatz: zeichne, was du siehst (und nicht das, was du weißt).
Kennst du das auch? Fühlst du dich auch manchmal von deinen eigenen Ansprüchen gebremst? Oder trittst zeichnerisch auf der Stelle? Vielleicht hilft dir mein Weg, sich locker zu machen.
In meinem Workshop Sehen mit dem Stift: locker Skizzieren habe ich habe einige schöne Übungen zusammengestellt, um zeichnerisch loszulassen und locker zu zeichnen. Wenn Du informiert werden möchtest, wenn wieder ein Workshop stattfindet, melde dich doch bei meinem Newsletter an.
Lockeres Urban Sketching: Flächen zuerst, dann Linien und Farb-/Tonwertverstärkungen
Aquarell und wasservermalbarer Farbstift (Derwent Inktense), teilweise in die noch feuchte Farbe gezeichnet.
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