Was ist der Unterschied zwischen abstrakter und realistischer Malerei?
Wo liegt die Grenze zwischen abstrakt und realistisch?
Kürzlich hat mich eine Kursteilnehmerin etwas Interessantes gefragt. Im Zusammenhang mit meinem Pleinair-Kurs (in dem ich zeige, wie man sich von der realistischen Darstellung der Landschaft löst), fragte sie mich:
“Wo liegt die Grenze zwischen abstrakt und realistisch? Ab wann kann man ein Landschaftsbild als abstrakt bezeichnen? Denn die Vorlage ist ja immer real.”
Meine direkte Antwort war:
“Die Grenze zwischen abstrakt und realistisch ist an dem Punkt, wo sich das Bild von der Vorlage löst. Wie stark, hängt davon ab, wie frei du die Vorlage interpretieren möchtest. Wenn dein Ziel der Ausdruck von „den Ort fühlen“ ist, wird diese subjektive Interpretation das Bild abstrakter machen, als wenn du dich mit dem Ziel „die Landschaft malen“ an das Bild setzt. Je mehr du dich also von der Vorlage entfernst, desto abstrakter wird das Bild werden.
Sich von der Vorlage zu entfernen, hängt meist mit Vereinfachung zusammen. Das zu erkennen und anzuwenden, ist nicht immer einfach. Die Möglichkeiten der Vereinfachung, die ich euch im Kurs vorstelle, muss man erst einmal verinnerlichen, um sie sozusagen schon im Blick auf die Landschaft anwenden zu können.
Das heißt, je mehr du die Möglichkeiten der Abstraktion als Wege, etwas anders zu Sehen erkennst, desto leichter wird es dir fallen, dich von der tatsächlichen Vorlage abzuwenden. … Deshalb übrigens der Kursname Wege des Sehens → :^)”
Diese Frage fand ich so gut, dass ich beschlossen habe, mich ein wenig mehr damit zu beschäftigen.
Abstrakte Landschaft auf Papier – gestische Malerei und Collage, entstanden Pleinair im August 2024 in der Toskana
Was ist überhaupt Abstraktion?
Fangen wir mal mit der Definition von Abstraktion an, damit wir vom selben sprechen.
Abstraktion ist eine Möglichkeit, sich von der Darstellung der sichtbaren Realität zu entfernen. Statt eine real existierende Welt abzubilden, geht es bei abstrakter Malerei eher um Emotion, Idee und Konzept. Farben, Formen und Strukturen werden verwendet, um eine bestimmte Stimmung oder Botschaft zu vermitteln.
Abstrakte Werke sind nicht unbedingt an konkrete Objekte oder Szenen gebunden. Die Regeln der realistischen Darstellung werden gebrochen, um Formen und Farben auf einer anderen Ebene zu erfassen.
Abstrakte vs. Realistische Kunst
Der Unterschied zwischen abstrakter und realistischer Kunst liegt in der Art und Weise, wie Künstler die Welt interpretieren und darstellen. Während realistische Kunstwerke die Natur bzw. unsere Umgebung genau wiedergeben, spielt abstrakte Kunst eher mit Formen, Farben und Strukturen, um eine emotionale oder konzeptionelle Wirkung zu erzielen.
Im Englischen wird realistische Darstellung “representational” genannt. Die Darstellung re-präsentiert etwas, sie stellt etwas Konkretes dar. Abstrakte Kunst will häufig genau das Gegenteil. Sie ist offen für die subjektive Wahrnehmung des Betrachters.
Abstraktion bietet Raum für Interpretation
Die Wirkung der Kunst auf den Betrachter ist ein wichtiges Element der abstrakten Kunst. Sie lässt Raum für subjektive Interpretation. Jedes abstrakte Werk kann für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben. Anstatt eine festgelegte Geschichte zu erzählen, spielen Künstler mit Symbolik, Emotionen und persönlichen Erfahrungen. Die Verwendung von Farbe, Form und Komposition wird oft so gewählt, dass sie eine bestimmte Atmosphäre oder Stimmung erzeugt, die beim Betrachter Resonanz findet.
Diese Individualität der Wahrnehmung ist eine der faszinierendsten Eigenschaften der abstrakten Kunst.
Über die Ursprünge der abstrakten Malerei ist schon alles erzählt, das möchte ich hier nicht wiederholen. Wichtig finde ich dabei aber, dass Anfang des 20. Jahrhunderts eine innere Überzeugung da war, dass Kunst nicht nur die Nachahmung der Natur sein soll. Der Fokus wurde von der „Repräsentation“ der Welt auf die emotionale und intellektuelle Erfahrung des Betrachters verlegt.
Ab wann gilt ein Bild als abstrakt?
Die Frage, ab wann ein Bild als abstrakt gilt, ist nicht so einfach zu beantworten und oft subjektiv.
Grundsätzlich kann ein Bild als abstrakt betrachtet werden, wenn es sich von der realistischen Darstellung von Objekten und Szenen entfernt. Es gibt jedoch keine klaren, universellen Kriterien, die diese Abstraktion definieren. Das heißt, diese Einschätzung hängt von der Intention des Künstlers sowie der Wahrnehmung des Betrachters ab. Ein Bild kann für eine Person abstrakt erscheinen, während eine andere es als realistisch interpretiert.
Die Grenze zwischen abstrakter und realistischer Malerei kann auch fließend sein. Viele Künstler integrieren Elemente beider Stile in ihren Arbeiten. Manchmal können Werke einfach nicht in eine “Kategorie” eingeteilt werden.
Gemalte und gezeichnete Augen – in unterschiedlichen Abstraktionsstufen
Wie malt man abstrakt? Wie abstrahiert man?
Wir gehen weg vom Abbildenden – der Bezug zum Gegenständlichen wird reduziert. Wenn wir vereinfachen, entfernen wir erzählerische Informationen und Details. Das führt dazu, dass das Thema aufgelöst wird und eine größere Abstraktion entsteht.
Außerdem ist ein wichtiger Aspekt das Experimentieren mit verschiedenen Techniken und Materialien.
3 Beispiele, um reale Dinge abstrakt(er) darzustellen
Änderung von Formen und Farben
Die Abstraktion wird verstärkt, wenn man sich von der naturgetreuen Darstellung von Farben und Formen von realen Dingen entfernt. Wenn die Elemente eines Bildes nicht mehr klar erkennbar sind oder die Beziehung zwischen den Formen und Farben nicht offensichtlich ist, wird das Bild abstrakter wahrgenommen.
Gestisch arbeiten/ Expressives Mark-Making
In der Natur nehmen wir die Vielfalt an Farben und Formen nicht als gestische Striche wahr. Wenn gestische Linien bzw. Mark-Making verwendet wird, erhält das Bild eine abstrakte Dimension. Erkennbare Elemente lösen sich auf, was die Abstraktion verstärkt.
Materialien und Werkzeuge
Materialen wie Sand, Stoff oder Alltagsgegenstände schaffen interessante Oberflächen und Texturen. Auch die Wahl der Werkzeuge ändert die Textur eines Bildes. Dies kann einen großen Einfluss auf die abstrakte Wirkung haben.
Wann ist ein Landschaftsbild abstrakt?
Die Natur ist so komplex, dass Landschaftsmaler sie vereinfachen müssen, um sie darzustellen. In der Landschaftsmalerei wird häufig vereinfacht, indem Details reduziert werden. Das machen auch Künstler, die ihre Bilder nicht als abstrakt bezeichnen würden.
Deshalb ist die Kategorisierung bei der Landschaftsmalerei besonders schwierig. Man könnte sagen, je extremer die Natur vereinfacht wird, desto größer wird die Abstraktion des Bildes. Aber eine sogenannte “abstrakte Landschaft” würde man wahrscheinlich eher “halbabstrakt” bezeichnen, da sie ja nicht komplett gegenstandslos ist. Die Landschaft soll ja noch erkennbar sein.
Und hier sind wir wieder bei der ursprünglichen Frage. Wie weit muss sich der Künstler entfernen, um ein Bild abstrakt zu machen, wenn das Sujet die Natur ist? Das hängt meiner Meinung nach von der Intention beim Malen ab.
Abstraktion ist also nicht nur eine Technik, sondern eine grundsätzliche Einstellung des oder der Künstlerin.
Und die Auseinandersetzung mit abstrakter Malerei ermutigt uns (egal ob künstlerisch tätig oder nicht), unsere eigene Wahrnehmung von Kunst zu hinterfragen und die Unterschiede des künstlerischen Ausdrucks zu schätzen.